Wie führt man Selbstorganisationsprinzipien in Unternehmen ein (Teil 5)?

Im letz­ten Teil die­ser Blog­se­rie geht es um das The­ma orga­ni­sa­tio­na­le Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on über­neh­men. Gal­ten bis­her die initia­len Pro­zes­se, Struk­tu­ren und Prin­zi­pi­en als vor­ge­ge­ben und nur über das Über­gangs­team änder­bar, über­nimmt nun die Orga­ni­sa­ti­on auch hier­für Ver­ant­wor­tung und beginnt, ihre eige­nen Rah­men­be­din­gun­gen wei­ter zu ent­wi­ckeln.

Übergangs-Konsent

An die­ser Stel­le im Pro­zess emp­feh­le ich wie­der einen Kon­sent als Basis für einen gemein­sa­men und ritu­el­len Über­gang. Das vom Über­gangs­team ent­wi­ckel­te und vor­ge­ge­be­ne Modell wur­de nun erprobt. Alle wis­sen jetzt, wie es sich anfühlt und was es bedeu­tet, so mit­ein­an­der zu arbei­ten, so dass sich jeder ein­zel­ne eine Mei­nung dazu bil­den kann. Sofern die­ses Modell gar nicht über­zeugt hat, sofern also eini­ge oder vie­le Vor­be­hal­te und Ein­wän­de gegen die­se neue Orga­ni­sa­ti­ons­form haben, wäre nun die letz­te Mög­lich­keit, die­se zu stop­pen.

Zum Ver­gleich: Die Holokratie-Einführung bei Zap­pos 2015/2016 folg­te einem ande­ren Modell. Dort wur­de Holok­ra­tie ver­pflich­tend vor­ge­ge­ben und wer nicht fol­gen woll­te, konn­te (mit Abfin­dung) gehen. Vie­le Kol­le­gin­nen nutz­ten die­se Mög­lich­keit.

Falls ein­zel­ne Mit­ar­bei­ter in dem neu­en Modell kei­nen pas­sen­den Platz gefun­den haben, wür­de dies bei einem Kon­sent auch gemein­sam erkannt und geklärt wer­den kön­nen. Auch die Inha­ber müs­sen von der Zukunfts­fä­hig­keit des neu­en Modells über­zeugt sein. Inso­fern dient der Kon­sent dazu, aus­zu­lo­ten und aus­zu­han­deln, wel­che Rah­men­be­din­gun­gen (roter Bereich in der Abbil­dung) und Modell­ele­men­te (blau­er Bereich) noch zu ent­wi­ckeln und zu ver­än­dern sind, um offe­ne indi­vi­du­el­le Ein­wän­de und Bedürf­nis­se zu inte­grie­ren oder inwie­weit die Orga­ni­sa­ti­on ihr gemein­schaft­li­ches Inter­es­se ganz bewusst über die­se indi­vi­du­el­len Inter­es­sen stel­len möch­te.

Die prio­ri­sier­te Feature-Liste kann hilf­reich sein, um spe­zi­fi­sche Inter­es­sen zu inte­grie­ren. Der Kon­sent ver­deut­lich ver­blie­be­ne Span­nun­gen und klärt sie in der einen oder ande­ren Wei­se. Soll­ten dies­be­züg­li­che Span­nun­gen bis zum Wech­sel in die vier­te Pha­se noch nicht geklärt wor­den sein, wer­den sie die Orga­ni­sa­ti­on wei­ter­hin belas­ten und stö­ren. Mög­li­cher­wei­se zeigt der Ver­such zu einem Kon­sent also auch, dass die Orga­ni­sa­ti­on für den Über­gang noch nicht reif ist und noch Zeit, Ent­wick­lun­gen und Klä­run­gen braucht.

Transitionsphasen

Würdiger Abschluss des Vergangenen

Mit dem akzep­tier­ten Über­gang in die nächs­te Pha­se wird das Über­gangs­team auf­ge­löst und mög­li­cher­wei­se durch einen ver­gleich­ba­ren über­ge­ord­ne­ten Füh­rungs­kreis (Top­kreis) ersetzt. Das Über­gangs­team soll­te hier­für ange­mes­sen ver­ab­schie­det wer­den. Die Mit­glie­der des Teams hat­ten eine anspruchs­vol­le Auf­ga­be zu bewäl­ti­gen. Sie muss­ten einen Rah­men mit neu­en und wenig ver­trau­ten kon­kre­ten Pro­zes­sen, Struk­tu­ren und Prin­zi­pi­en fül­len und dabei gleich­zei­tig die Inter­es­sen, Bedürf­nis­se und Mög­lich­kei­ten aller Betei­lig­ten ange­mes­sen berück­sich­ti­gen. Ein klei­nes Dan­ke­schön ist für die­se Arbeit ange­bracht.

Mög­li­cher­wei­se ist es auch sinn­voll, die frü­he­ren Füh­rungs­kräf­te, die nicht Inha­ber waren, noch ein­mal zu wür­di­gen und ihnen zu dan­ken. Deren Rol­len sind ver­mut­lich ent­fal­len oder haben sich radi­kal geän­dert. Die sys­te­mi­schen Ver­än­de­run­gen sind für die­se Per­so­nen wahr­schein­lich am deut­lichs­ten spür­bar.

Auch die Inha­ber soll­ten dabei nicht ver­ges­sen wer­den, vor allem dann nicht, wenn sie Inhaber-Geschäftsführer sind oder waren. Ohne ihre Unter­stüt­zung wäre eine Trans­for­ma­ti­on hin zu einem kollegial-geführten Unter­neh­men gar nicht mög­lich gewe­sen. Die ehe­ma­li­gen Füh­rungs­kräf­te und Geschäfts­füh­rer haben Macht, Sta­tus und klas­si­sche Kar­rie­re­per­spek­ti­ven abge­ge­ben und auf­ge­ge­ben, ohne die Sicher­heit zu wis­sen, ob, wo und wie genau ihr neu­er Platz und ihre neue Rol­le in der Orga­ni­sa­ti­on sein wird. (Zum The­ma Sys­tem­prin­zi­pi­en, Aus­gleichs­prin­zi­pi­en und not­wen­di­gen Aus­gleichs­hand­lun­gen beim Über­gang pla­ne ich einen wei­te­ren Blog­bei­trag zusam­men mit Clau­dia Schrö­der.)

Sofern im Pro­zess Kon­flik­te auf­ge­tre­ten sind und nicht alle Bedürf­nis­se und Inter­es­sen befrie­di­gend und ange­mes­sen berück­sich­tigt oder kom­pen­siert wer­den konn­ten, ist der Über­gang die vier­te Pha­se ver­mut­lich die pas­sends­te Mög­lich­keit, in einem gemein­sa­men Ritu­al Ver­zei­hung und Ver­söh­nung zu üben.

Wie geht es weiter?

Die Orga­ni­sa­ti­on beginnt in der gel­ben Pha­se nun auch die Ver­ant­wor­tung und Gestal­tung ihr Führungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dells zu über­neh­men. Das Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell wird nun nicht mehr vom Über­gangs­team, son­dern von der Kol­le­gen­schaft ins­ge­samt ver­ant­wor­tet und agil wei­ter­ent­wi­ckelt.

Sowohl inner­halb der ein­zel­nen Krei­se und Rol­len als auch im Ple­num, Top­kreis oder ande­ren über­ge­ord­ne­ten Struk­tu­ren und Pro­zes­sen wer­den auch alle ope­ra­tio­na­len Aspek­te der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on über­nom­men. Die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on wird selbst­be­stimmt effi­zi­en­ter und effek­ti­ver und in vie­len klei­nen Schrit­ten evo­lu­tio­när und empi­risch wei­ter­ent­wi­ckelt.

Der Rah­men wird durch­läs­si­ger und fle­xi­bler. Erlaubt ist, was zu den gemein­sa­men Wer­ten und Prin­zi­pi­en passt. Statt ermäch­tigt zu wer­den oder ande­re zu ermäch­ti­gen, ermäch­tigt sich jeder selbst in Koope­ra­ti­on und durch Kon­sul­ta­ti­on mit den ande­ren. Das heißt, die Akti­on geht von den Ein­zel­nen aus. Das Han­deln nach dem Prin­zip, lie­ber hin­ter­her Ver­zei­hung üben, als jedes­mal vor­her alle ein­zu­be­zie­hen, ist nicht auto­ma­tisch vor­han­den, ist für alle Betei­lig­ten anfangs unge­wohnt und muss ver­mut­lich erst ein­ge­übt wer­den.

Krei­se kön­nen sich unab­hän­gig vom Rest und völ­lig eigen­ver­ant­wort­lich anders auf­tei­len, fusio­nie­ren, ande­re Rol­len ein­rich­ten, sich für ande­re Ent­schei­dungs­ver­fah­ren ent­schei­den usw. Selbst ihren Zweck und Zustän­dig­keits­be­reich kön­nen sie in sich selbst ermäch­ti­gen­der Wei­se gestal­ten, soweit die übri­ge Orga­ni­sa­ti­on sie gewäh­ren lässt. Möch­te ein Kreis also sei­ne Zustän­dig­keit oder sei­nen Zweck ändern, muss es nicht die ande­ren um Zustim­mung fra­gen, son­dern den über­ge­ord­ne­ten Instan­zen ledig­lich eine Ein­wand­in­te­gra­ti­on und Veto­mög­lich­keit gewäh­ren oder ihnen sogar nur Trans­pa­renz und Feed­back ermög­li­chen.

Die ein­zi­gen wei­ter­hin zu respek­tie­ren­den (aber ver­han­del­ba­ren) Rah­men­be­din­gun­gen sind die der Inha­ber (rot). Der Über­gang in die gel­be und tür­ki­se Pha­se ist ver­mut­lich der anspruchs­volls­te Schritt. Was gelb und tür­kis bedeu­ten, habe ich Blog­bei­trag über die Evo­lu­ti­on mensch­li­cher Orga­ni­sa­ti­ons­for­men beschrie­ben.

Auch mit den für den grü­nen Bereich typi­schen Eigen­schaf­ten ist ein kol­le­gi­al geführ­tes Unter­neh­men gut vor­stell­bar und funk­ti­ons­fä­hig. Das domi­nie­ren­de Bedürf­nis, sich in allem Han­deln stets von der Gemein­schaft und sei­nen Krei­sen ermäch­ti­gen zu las­sen, bremst jedoch. Um die­se Brem­se zu über­win­den braucht die Orga­ni­sa­ti­on belast­ba­re gemein­sa­me Wer­te und Prin­zi­pi­en, damit die Selbst­er­mäch­ti­gun­gen in Bezug auf die gemein­sa­me Ver­ant­wor­tung und das Gemein­wohl beur­teil­bar wer­den und Ver­trau­en auf­bau­en kön­nen.

Das Lern­feld der Orga­ni­sa­ti­on liegt dar­in, sich in Abhän­gig­keit von der Kom­ple­xi­tät eines zu lösen­den Pro­blems der pas­sen­den Hand­lungs­prin­zi­pi­en zu bedie­nen und den pas­sen­den Füh­rungs­fo­kus zu wäh­len (sie­he nächs­te Abbil­dung).

Fuehrungsfoki

Die kreis­über­grei­fen­de Wei­ter­ent­wick­lung der Gesamt­or­ga­ni­sa­ti­on, deren Pha­sen­über­gän­ge mit Hil­fe einer Feature-Liste für alle sicht­bar orga­ni­siert wer­den kann, kann mit Hil­fe eines über­grei­fen­den Ideen- und Ent­schei­dungs­mo­ni­tors vom Top­kreis oder Ple­num wei­ter geführt wer­den.

Damit been­de ich die Serie über die Ein­füh­rung kol­le­gia­ler Füh­rungs­prin­zi­pi­en in bestehen­den Orga­ni­sa­tio­nen. Dabei möch­te ich noch­mal dar­auf hin­wei­sen, dass es nicht die eine oder rich­ti­ge Vor­ge­hens­wei­se gibt, aller­dings schon ein paar typi­sche Phä­no­me­ne und Prin­zi­pi­en. Wer mehr hier­zu lesen möch­te: Ende Okto­ber 2016 erscheint unser Buch “Das kol­le­gial geführ­te Unter­neh­men” aus dem Tex­te und Abbil­dun­gen zu die­ser Blog­se­rie stam­men.